Rede von Peter Killer zur Vernissage der ersten Ausstellung «Mario Comensoli — Wendezeit» am 20. Januar 2005

Restaurant Cooperativo, Zürich. 18. Januar 2005

Ich erinnere mich an die Nacht vom 30. Juni 1968. Ich und meine spätere Frau waren auf der Vespa unterwegs und kamen auf dem Heimweg über den Bahnhofplatz. Obwohl wir nicht an der vordersten Front waren, obwohl wir keine Steine warfen, fühlten wir uns als Teil der Demonstranten, als Teil jener Manifestation, die als Globuskrawall in die Geschichte eingegangen war. Wir waren glücklich, überglücklich — und wussten nicht wieso. Erst später verstand ich die Ursachen dieses im Augenblick unbenennbaren Glücksgefühls, das auch viel mit Zusammengehörigkeit zu tun hatte. Aber vor allem erlöste das Ereignis von einem eher unbewusst als bewusst wahrgenommenen Druck.

Wir liebten in den sechziger Jahren die Lieder der Beatles und sympathisierten mit den Hippies. Aber diese Liebe und Sympathie betraf etwas, das sich weit weg abspielte. Hier bei uns ging fast alles seinen unglaublich normalen Gang. Entgegen der Befürchtungen der Prognostiker war das Wirtschaftswunder, das in den fünfziger Jahren begonnen hatte, nicht zum Stillstand gekommen, sondern trieb immer üppigere Blüten. Es war der Generation unserer Eltern gelungen, das wirtschaftlich zugrundegerichtete Europa wieder zu Wohlstand zu bringen. Man konsumierte und konsumierte, die Zufriedenheit grassierte, die beste aller Welten schien gefunden. Auf den deutschen Kanälen waren bereits Farbfernsehsendungen abrufbar, das Autobahnnetz wuchs von Jahr zu Jahr. Und nun platzte der Globuskrawall in die helvetische Selbstzufriedenheit, liess das Wir-haben-ja-alles-uns-geht-es-gut-Gefühl erzittern. Und für uns hiess das: Doch, es lässt sich etwas verändern. Es muss nicht so weitergehen wie es gegangen ist. Es gab etwas zu erreichen, das nicht käuflich erwerbbar war. Es hat sich dann vieles verändert. Vieles zum Guten.

Verändert hat sich auch die Kunst Mario Comensolis. Sie ist befreit worden. Sie hat sich schlagartig erneuert. Wohl vor allem durch die Erfahrung, dass er, der Aussenseiter, nicht nur in den Immigranten ein Gegenüber finden konnte, sondern dass es noch andere in dieser Gesellschaft gab, die sich innerlich fremd fühlten. Mario Comensoli hatte ganz sicher anhand der französischen Presse die Pariser Mai-Unruhen genau verfolgt. Mit Paris fühlte er sich verbunden. Da passierte Unglaubliches in jener Stadt, die am Ende der vierziger Jahre für seine Entwicklung so wichtig gewesen war. Seit dem 30. Juni 1968 gab es für Mario Comensoli in Zürich ganz neue Identifikationsmöglichkeiten. Dass er im Sommer 1968 ein Glücksgefühl erlebt hat, das einige Zeit anhielt, machen seine Bilder deutlich. 1970 hat er seine neuen Werke in der Galerie Walcheturm gezeigt. Auch an dieses Ereignis erinnere ich mich genau. Ich hatte schon damals grossen Respekt vor der Malerei, bewunderte die Meister der klassischen Moderne. Die internationale Zeitkunst kannte ich allerdings fast nur von Abbildungen. In Zürich ab es damals nur einen einzigen Ort, an dem man beispielsweise Werke der Pop-Art sehen konnte: die Galerie Bischofberger. Und nun sah ich Malereien, die in ihrem Duktus den älteren Meistern der Moderne verwandt schienen, die aber eine völlig neue Thematik zeigten, mit meiner Welt etwas zu tun hatten, mit meiner Generation. Eine unbändige Vitalität strahlte da einem entgegen, Farben in nie gesehenen Kombinationen. Bewegung und Rhythmus. Nicht nur betroffen war ich von diesen Bildern, sondern beseelt, beflügelt, beglückt. Nur ganz selten habe ich später vergleichbare Ausstellungserlebnisse gehabt.

Leider sind verhältnismässig wenig Werke aus der Walcheturm-Ausstellung erhalten geblieben. Zu viele hat Mario Comensoli später in seinem Schaffenseifer übermalt, geopfert, weil keine anderen Leinwände zur Hand waren.

Der Maler der Immigranten, der Maler der «lavoratori in blu» sagte später über diese frühere Epoche, die manchmal, aber meiner Ansicht nach zu unrecht, als sein Hauptwerk betrachtet wird: «Die Gastarbeiter haben damals unsere Wirklichkeit verändert, sie stellten das Gewohnte in Frage, sie provozierten uns. Sie verzauberten unseren Alltag, für mich waren sie die neue Ästhetik. Ich konnte ihnen nicht ausweichen, ich musste sie malen. In meinen Bildern wurden sie für mich zur Poesie.» Wenn die «lavoratori in blu» erdige Poesie waren, dann sind die Bilder der Wendezeit eine bunte Reportage aus der Welt der TEACH-INs, der Demonstrationen, der WGs, der feministischen Bewegung, keine unbestechlich objektive Reportage, im Gegenteil, Chronist — nicht Poet — wollte Comensoli nun sein, aber parteiischer, solidarischer.

«Wendezeit» heisst der Titel dieser kleinen Ausstellung aus Werken. Er bezieht sich auf die nachhaltigen Auswirkungen der 68er-Bewegung. Ganz besonders aber auf den Wandel im Schaffen Comensolis. Er fand damals nicht nur eine neue Optik, sondern eine auch eine neue Malweise. Er malte schneller, skizzenhafter, begnügte sich nun oft mit Andeutungen. Die ganze Farbpalette stand ihm, der sich vorher chromatisch beschränkt hatte, zur Verfügung. Mit diesem Neubeginn entstand das Oeuvre der letzten 25 Jahre.

In der Terminologie von Erich Fromm handelte es sich bei der 68er-Bewegung um einen Aufstand des Existenzweise des Seins gegen jene des Habens. Die Ideologie des Habens hat sich leider immer wieder als stärker erwiesen. Kein Wunder, wenn in Mario Comensolis Bildwelt schon in den frühen siebziger Jahren, wie sie hier ebenfalls sehen, die Konsumwelt und ihre Perversion in den Vordergrund rückt.

Der Maler Mario Comensoli fühlte sich mit dem Coopi — dem alten an der Militärstrasse und dem heutigen am Werdplatz — eng verbunden. An diese herzliche Beziehung soll die vierteilige Ausstellung mit einer Reihe der wichtigsten Werke aus dem Besitz der Stiftung Mario und Hélène Comensoli erinnern. Die erste Ausstellung, die von Oktober bis Anfang Januar dauerte, galt den «lavoratori in blu», seinen berühmten Arbeiter-Bildern aus den fünfziger und sechziger Jahren.

Die Bilder der «Wendezeit» werden zwei Monate im Coopi zusehen sein, dann machen sie einer dritten Werkgruppe Platz: «I secondo». Wiederum geht es um die Gastarbeiter, aber nun — in einer neuen Bildsprache — um die Generation der hier aufgewachsenen Söhne, die sich zwischen zwei Kulturen bewegen.
Schliesslich wird die Stiftung Mario und Hélène Comensoli Werke aus den achtziger Jahren zeigen, die das Leben der jungen Zürcher Aussenseiter schildern. In Wipkingen arbeitend, hat Comensoli hautnah mitverfolgt, was damals am Letten und auf Platzspitz passiert ist.

Im Namen der Mario und Hélène-Comensoli-Stiftung möchte ich mich für das Gastrecht sehr herzlich bedanken.