Biografie
Die Kunst Mario Comensolis gehört zu den wichtigsten Beiträgen der kritisch-realistischen Schweizer Kunst. Nach 1953 waren seine Themen der Gegenwart entnommen und in eine lesbare Bildsprache übersetzt. Er wurde zum Chronisten des Lebens von subjektiv ausgewählten Bevölkerungsgruppen, mit denen er empathisch verbunden war. Zum Etikett des «politischen Malers» hatte er, der nie einer Partei angehörte, eine gewisse Distanz. Sein Hauptanliegen war, die Malerei zu erneuern oder gar zu revolutionieren. In seiner Arbeit wurde er nachhaltig unterstützt von seiner Frau Hélène Comensoli-Frey (1914–1994), die er 1945 geheiratet hatte.
1922 – 1940
Mario Pasquale Comensoli wurde am 15. April 1922 in Lugano geboren. Die Familie Comensoli war am Ende des Ersten Weltkriegs aus der Toskana ins Tessin ausgewandert. Nach der Machtübernahme durch die Faschisten wollte sein Vater nicht mehr nach Italien zurückkehren. Gegen Ende des Geburtsjahres von Mario Comensoli starb seine Mutter, und sein Vater brachte ihn in die Krippe «Misericordia» in Lugano, wo zahlreiche Waisenkinder untergebracht waren. Die dort arbeitenden, aus Cesena in der Emilia-Romagna stammenden Schwestern Palma und Giovanna Ghiraldi nahmen sich des kleinen Mario an. Sie wohnten im Quartier Molino Nuovo, wo viele Arbeiter und italienische Emigranten lebten.
1937 kehrten die beiden Schwestern nach Italien zurück und liessen sich in der Romagna nieder, wo Mario im Sommer häufig seine Ferien verbrachte. Die Familie seines 13 Jahre älteren Bruders Francesco, ein überzeugter Kommunist, der als Taxichauffeur arbeitete, nahm ihn auf. Nach Beendigung der obligaten Schulzeit lebte er von Gelegenheitsarbeiten. Gleichzeitig begann er zu zeichnen und zu malen und verkaufte seine Bilder, vorwiegend Aquarelle, an Touristen.
1941 – 1943
René Daetwyler, der Besitzer des Hotels Esplanade in Lugano, bot Mario Comensoli ein Zimmer in der Dépendance an, wo er wohnen und arbeiten konnte. Der Hotelier war von Comensolis Talent überzeugt, unterstützte ihn in der Arbeit und stellte ihn Gästen vor, denen er seine ersten Bilder verkaufen konnte. 1942 besuchte Comensoli Carlo Cottis Abendschule für Aktmalerei. Diese Schule war einer der aktivsten Treffpunkte in der Kulturszene von Lugano. Cotti öffnete Comensoli den Zugang zum italienischen Novecento und dem französischen Impressionismus. Wichtig wurden auch die Kontakte mit dem Maler und Bildhauer Giuseppe Foglia. In dessen Atelier sah er höchst wahrscheinlich zum ersten Mal Reproduktionen der Protagonisten der modernen Kunst (Picasso, Matisse, Modigliani, Carrà, Morandi, Sironi), die ihn begeisterten. Foglia, der sehr gut über die Pariser Szene informiert war, empfahl Comensoli, das Tessin zu verlassen und nach Paris zu ziehen – eine Empfehlung, die er nach dem Ende des zweiten Weltkriegs unverzüglich in die Tat umsetzte. Der junge Comensoli profitierte von Cotti und Foglia, später von den Kursleitern an der ETH Zürich und der Kunstgewerbeschule Zürich, aber im wesentlichen eignete er sich seine Fähigkeiten Schritt um Schritt selber an, sich an Vorbilder annährend und sich von ihnen lösend.
Ab 1943 zeigte mehrmals seine Bilder an der Messe «Fiera di Lugano». Im gleichen Jahr gewährte ihm die Torricelli-Stiftung der Stadt Lugano das erste von insgesamt sechs Stipendien. Comensoli übersiedelte nach Zürich und begann an der ETH Kurse für Architekturzeichnen und Vorlesungen über Kunstgeschichte zu besuchen.
1944 – 1949
Anfangs Jahr traf Comensoli in Zürich ein und bewohnte ein kleines Zimmer an der Kornelius-Strasse im Seefeld-Quartier. 1945 reiste er nach Padua, Mailand, Florenz, Rom und Pisa, wo er die alten Meister studierte. Danach zog er definitiv nach Zürich und heiratete im selben Jahr die Baslerin Hélène Frei. Das Paar lebte sehr bescheiden in zwei Mansardenzimmern an der Zurlinden-Strasse 216 in Zürich-Aussersihl. Die Torricelli-Stiftung ermöglichte Mario Comensoli 1945 einen ersten Aufenthalt in Paris. Hier begegnete er zum ersten Mal Originalbildern von Picasso, die ihn stark beeinflussten. Ab 1948 bis Frühjahr 1953 folgten verschiedene Aufenthalte in Paris. Comensoli wohnte in Montparnasse und lernte Mirò, Borès, die Brüder Diego und Alberto Giacometti, Pignon u.a. kennen. Wie intensiv diese Kontakte waren, lässt sich nicht sagen: Mario Comensoli war als Maler ein Draufgänger, im zwischenmenschlichen Kontakt aber eher zurückhaltend.
Im Herbst 1949 mietete sich während eines Monats beim Maler Giuseppe Orazi (1906-1979) ein und arbeitete, wenn nicht in Ateliergemeinschaft, dann doch in seiner Nähe. Diese Begegnung regte ihn zu post-kubistischen, dynamischen Werken (Peinture du Mouvement) im Stil Orazis an.
Zu Beginn der 50er-Jahren kam es zum intensiven Kontakt mit dem Zürcher Bildhauer Emilio Stanzani. Stanzani porträtierte Comensoli. In der gleichen Zeit entstanden Gipsplastiken Comensolis, die mit den Werken Stanzanis vergleichbar sind. Im Nachlass Comensolis befinden sich aber auch Gipsfiguren im Stil Picassos. Da die Auseinandersetzung mit Picasso 1948/49 aufhört, liegt die Vermutung nahe, dass die ersten Plastiken bereits in den vierziger Jahren entstanden.
Bis 1953, also 31jährig, war er Lernender, von Vorbildern Beeinflusster. Den Weg zu sich fand er über die Zürcher Helmhaus-Ausstellung. Vom 21. März bis zum 26. April 1953 konnte Comensoli im ersten Stock des Zürcher Helmhauses als Gast der ehrwürdigen Zürcher Kunstgesellschaft 65 Werke zeigen. Das Helmhaus war damals eine Dependance des Zürcher Kunsthauses. Dass der Vorstand einem so jungen Künstler diese Ausstellungsehre zukommen liess, war ungewöhnlich. Rudolf Jakob Humm, einer der angesehensten Zürcher Schriftsteller, schrieb das Vorwort zum Katalog. Zum mutigen Entschluss, einen so jungen Künstler vorzustellen, kam die Ausstellungskommission, beeinflusst von Dr. René Wehrli, dem späteren Kunsthausdirektor, weil sie von der Vitalität der Arbeiten Comensolis beeindruckt war und weil sie in diesem Künstler, der sich mehrmals in Paris aufgehalten hatte, den Vertreter einer neuen, weltoffenen, mit den internationalen Tendenzen verbundenen Kunst sah.
Der Anstoss zum Neubeginn ergab sich aber nicht über die mehrheitlich positiv eingestellte Zürcher Presse, sondern über einen kleinen Artikel, der mehr als ein halbes Jahr später in der Pariser Wochenzeitung «Les lettres françaises» erschien, in dem Comensoli – sicher von Orazi veranlasst – ein Plagiatsvorwurf gemacht wurde. Comensoli reagierte heftig. Als er in dieser Angelegenheit einen Rechtsanwalt bemühte, nahm die Affaire fast groteske Züge an.
Als Orazi-Plagiator wollte Comensoli nicht diffamiert werden. Er besann sich auf seine eigenen Wurzeln und begann seine Serie der Immigranten-Bilder, inspiriert von Arbeitern, die er fast täglich beim Mittagessen in kostengünstigen Restaurants traf. Die Kunsthauptstadt Paris und ihre neuen Kunsttrends hatte nun für Comensoli ihren Glanz verloren.
Nun begann Comensolis sogenannte «blaue Periode» oder besser die Zeit der «Arbeiter in Blau», die bis zum Ende der 50er-Jahre dauerte. Die Bilder dieser Periode zeugen von seiner neuen künstlerischen Ausrichtung, die ganz den Emigranten und der sozialen Wirklichkeit des Proletariats gewidmet ist. Lange Jahre werden diese Arbeiterbilder ein Synonym für die Kunst Comensolis bleiben. 1958 bekam er von der Stadt Zürich ein Atelier an der Rousseau-Strasse 59, wo früher der Bildhauer Karl Geiser und der Maler Max Gubler gearbeitet hatten. 1962 lud ihn der sozial engagierte italienische Schriftsteller Carlo Levi ein, seine Bilder und einige Zeichnungen zum Thema der italienischen Auswanderer am Kongress der Emigranten in Avellino und in der Galleria San Luca in Rom auszustellen: ein vorläufiger Höhepunkt in seiner Karriere. 1970 wurde sein Engagement für die Immigranten mit dem Premio di San Nicolao geehrt. Gleichzeitig ausgezeichnet wurden Max Frisch und der Regisseur Alexander J. Seiler.
1962 – 1968
Das «Wirtschaftswunder», der Beginn der Hochkonjunktur veränderte das Leben der einst benachteiligten Einwanderer. Und die Optik Comensolis. Die Neureichen, die selbstzufriedenen Kleinbürger, die dank wirtschaftlichem Wohlstand die Züge einer falschen neuen Wohlstandsgesellschaft annehmen, wurden seine Kunstsujets.
1968 – 1973
Mario Comensoli war ein aufmerksamer, bestens informierter Zeitgenosse. Die Pariser Mai-Revolten und die folgenden Ereignisse nahm er gespannt zur Kenntnis. Als junge Leute die verkrusteten Verhältnisse aufbrechen wollten, eine gelebte Ethik dem Materialismus entgegensetzten, stand er in Gedanken auf ihrer Seite. Mit tiefster Sympathie malte er die Rebellen, die die Visionen von einer besseren, friedlichen, gerechten Welt in die Tat umsetzen wollten.
Nach einer eher monochromen Phase entdeckte Comensoli die Farbe – bestärkt von der damals neuen Pop-Malerei. Auch kam es zu einer neuen Dynamisierung seiner Bilder, die bis zum Lebensende nichts an Kraft verloren hat.
1971 reiste er nach Ischia und war mit dem Thema des Massentourismus konfrontiert. Im Jahr darauf entstand für die gleichnamige Wanderausstellung die Serie «Tell 73», in der Mario Comensoli auf ironische Weise die Widersprüche der saturierten schweizerischen Gesellschaft mit ihren Mythen, Helden und Stereotypen in grossformatigen Bildern abhandelte.
1974 – 1975
In der Maschinenfabrik Rüti, die mit einem Kulturprojekt die schweizerischen und italienischen Arbeiter einander näher bringen wollte, wurden im Jahr 1974 Comensoli-Werke gezeigt. Comensolis Schaffen war aber in dieser Periode ganz auf die Wohlstandsgesellschaft, die Konsumwut ausgerichtet. (Ein ähnliches Projekt hatte er bereits 1965 in den Volvo-Produktionsräumen in Lyss realisiert.) Höhepunkt war eine Ausstellung mit dem Titel «Kapelle der holden Widersprüche» 1975 in der Galerie Jamileh Weber in Zürich-Höngg, die Comensoli selbst einrichtete. Ein dreidimensionales Ambiente. Wände, Gewölbe und Decken waren vollbehängt mit Bildern, die vorwiegend das Thema der Emanzipation der Frau und ihrer sozialen Rolle in der Gesellschaft behandeln. Dieses Environnement wurde 1978 in Paris (Porte de la Suisse) erneut aufgebaut.
1976 – 1981 …
… entstanden Bilder, die den Secondos gewidmet waren. Im Vordergrund standen die Söhne und Töchter jener Emigranten, die er früher gemalt hatte und die es nun leichter hatten, sich in die schweizerische Gesellschaft zu integrieren als ihre Väter.
1978 lud ihn das Palace-Hotel Locarno ein, während des Filmfestivals Werke zum Thema Kino zu zeigen. Diese Einladung regte ihn an, einige Dutzend Cinema-Werke zu schaffen.
Parallel zum Kino-Zyklus entstand die Reihe der Discovirus-Bilder. Auf der einen Seite Jugendliche der zweiten Einwanderergeneration, die livriert in den Kinos als Platzanweiser arbeiten und in den Pausen Popcorn verkaufen. Das Kino wird als Traumfabrik gesehen, die Scheinwerfer sind auf die gerichtet, die die Illusion von Glamour und die nüchterne Realität nur schlecht zu trennen wissen. Auf der andern Seite die «Italos», die sich in den Diskotheken der Vorstädte dem Saturday Fever hingeben und den damaligen Star John Travolta imitieren.
Das Thema Tanz zieht sich durchs ganze Schaffen Comensolis. Kein Wunder, dieser Künstler war ein Bewegungsnaturell. Ball spielen, Rad fahren bedeute ihm viel. Neu hingegen war, das gilt für alle Arbeiten bis zu seinem Tod, dass die Protagonisten seiner Bilder nun ausschliesslich Jugendliche oder junge Erwachsene waren.
1981 – 1986
In den achtziger Jahren rüttelte der Protest der No-Future-Generation Zürich auf. Mario Comensoli, Seismograph der wichtigen sozialen Veränderungen, konnte nicht indifferent bleiben. Im Gegensatz zur 68er-Revolte gab es nun kein Vertrauen mehr in die parlamentarischen Institutionen, in denen die 68er ihre Plätze bekommen hatten. Das Anarchische dieser Bewegung gefiel dem allen Dogmatischen gegenüber kritischen Künstler. So entstand die Serie, die er als «Jugend im Aufruhr» bezeichnete. Er beschäftigte sich vorerst mit jungen Menschen, die in Landkommunen ihr Glück suchten, dann waren es die städtischen Punks, verquerte Gestalten mit Irokesenhaarschnitt wie Hahnenkämme, Dandys in Lumpen. Sie sind nicht ohne exaltierte Fröhlichkeit, auch wenn ihre Augen ohne Pupillen die existentielle Leere reflektieren.
1986–1993
Von 1986 bis 1995 herrschte in Zürich ein Ausnahmezustand. Täglich trafen sich bis zu 3000 Drogensüchtige auf dem Platzspitz hinter dem Landesmuseum, später auf dem Letten-Areal. Allein 1991 starben gegen 400 Personen an den Folgen des Drogenkonsums. Dieses Elend spielte sich in der Nähe von Comensolis Atelier ab und nur wenige Meter neben dem Flussbad Oberer Letten, das der Künstler an warmen Tagen regelmässig besuchte. Ein Gedanke Pier Paolo Pasolinis, den er sich notiert hatte, charakterisiert den tristen Zustand der in Comensolis letzten Lebensjahren gemalten jungen Menschen. «Die Kinder, die wir um uns herum sehen, sind bestrafte Kinder, bestraft zunächst von ihrem Unglück, und dann in der Zukunft, von wer weiss welchen Hekatomben.» Comensoli malte wie ein Besessener und erreichte eine ausserordentliche Freiheit. Die Lebensfreude, die die meisten seinen früheren Werke erfüllt hatten, wich nun einem tiefgreifenden Pessimismus.
Er hatte zeitlebens leidenschaftlich gern gezeichnet; meistens handelte es sich um Skizzen, Studien, mit denen er seine Malereien vorbereitete. Im späten Schaffen fand er eine Synthese von Zeichnung und Malerei. In spontaner, schneller Gestik bezeichnete er die Leinwand mit Kohle oder schwarzer Kreide, reagierte dann mit Farbe auf das Gezeichnete, überzeichnete wieder, malte wieder, zeichnete wieder … Er, der in früheren Jahren in langwieriger Arbeit Bilder immer wieder überarbeitet hatte, schien nun kein Zögern mehr zu kennen, schuf seine Bilder in einer Geschwindigkeit als ob er geahnt hätte, dass ihm nur noch wenig Schaffenszeit blieb.
Mario Comensoli starb am 2. Juni 1993. Er war herzkrank, wahrscheinlich ohne es zu wissen. Zwei Wochen vorher hatte er an einem Radfahrertag teilgenommen und ein Bild zugunsten neuer Fahrradwege gestiftet. Es stellt ein zwischen zwei Autos liegendes, zerquetschtes Velo dar.