La Peinture du Mouvement

Centro Comensoli, Zürich. 10. Mai 2005

«Peinture du Mouvement» — das Ausstellungsthema bezieht sich auf eine kurze, ungefähr vierjährige Schaffensphase, in der sich Mario Comensoli mehrmals in Paris aufhält und die im Winter 1953/54 zu Ende geht. Puzzleartig fügt Comensoli in dieser Zeit Farbflächen aneinander, und zwar in einer Weise, dass das Bild in Bewegung zu geraten scheint. Die Werke handeln von Bewegung, von Sport, Streit, Stierkampf und anderen dramatischen Ereignissen, sie sind aber zugleich selber Bewegung.

Das Jahr 1953 wird für Mario Comensoli zu einem Jahr der Bewegung, es passiert schliesslich mehr als ihm lieb ist, und es kommt zu Entscheidungen, die sein weiteres Schaffen nachhaltig prägen.

Vom 21. März bis zum 26. April 1953 hat der knapp 31jährige Mario Comensoli im ersten Stock des Zürcher Helmhauses als Gast der ehrwürdigen Zürcher Kunstgesellschaft 36 Gemälde ausgestellt, von denen sie hier sechs sehen. Hinzu kamen 25 Zeichnungen und vier Plastiken.

Das Helmhaus war damals eine Dependance des Zürcher Kunsthauses. Dass der Vorstand einem so jungen Künstler diese Ausstellungsehre zukommen liess, war ungewöhnlich. Rudolf Jakob Humm, einer der angesehensten Zürcher Schriftsteller, schrieb das Vorwort zum Katalog, der mit zwanzig Seiten, vier schwarzweisse Abbildungen inbegriffen, zwar nicht gerade umfangreich war, aber dem entsprach, was damals gang und gäbe war. Zum mutigen Entschluss, einen so jungen Künstler vorzustellen, kam die Ausstellungskommission höchstwahrscheinlich, weil sie von der Vitalität der Arbeiten Comensolis beeindruckt war und weil sie in diesem Künstler, der sich mehrmals in Paris aufgehalten hatte, den Vertreter einer neuen, weltoffenen, mit den internationalen Tendenzen verbundenen Kunst sah.

Humm beendete seinen schönen Text mit folgender Passage: «Comensoli ist Italiener, und ich bin es halb. So oft er mich besucht, herrscht bei mir der Süden in der Stube. Welchen Schweizer Maler, und wäre er noch so viel jünger als ich, würde ich so ungeniert Spitzbube (birichino) nennen? Welcher würde mich mit solcher Liebenswürdigkeit als einen Briganten bezeichnen, der ins Gefängnis gehört (zum Beispiel, weil ich diese Einführung über ihn schreibe)? Es ist ein unübersetzbares Klima der Heiterkeit, der Leichtigkeit, des Scherzes, der artigsten Teufelei, der ständigen guten Laune. Und natürlich auch der Heftigkeit. In Dingen der Kunst und der Ehre kann Comensoli sehr heftig werden. Aber das alles ist eigentlich unübertragbar. So sei ein einziger Zug mitgeteilt. Comensoli erzählt gern, wie er schon mit fünf Jahren die letzte Oelung empfangen habe und dass für ihn schon die Glocken geläutet hätten, weil er an einer Lungenentzündung auf den Tod erkrankt und bereits aufgegeben war. Und das erzählt er, weil im Volk die Sage geht, aus solchen Kindern gebe es uralte Leute, und darin eine humorige Drohung für uns enthalten ist. Seine Malerei werde nicht so bald aus der Welt wieder verschwinden, sie werde am Ende gar Schule machen. Das alles ist mit einem leicht diabolischen Augenzwinkern in jenem Hinweis enthalten.
Und ich glaube es ihm und füge hinzu, dass ich mir die «diavoleria» seiner Kunst recht gern gefallen lasse. Ich bin sogar überzeugt, dass die zweite Hälfte unseres Jahrhunderts bald ohne ihn nicht mehr zu denken sein wird. Ich wiederhole: der junge Maler Mario Comensoli erteilt uns allen eine wichtige Lehre: die Lehre der Integrität, der Ganzheit.»

Rudolf Jakob Humm, ein Homme de lettres, war mit vielen Künstler befreundet, aber verstand sich selber keineswegs als Kunstsachverständiger. Er unterliess es denn auch, die ausgestellten Werke zu charakterisieren oder gar zu analysieren. Vergeblich sucht man in seinem Text Bezüge zur französischen Kunst der damaligen Zeit oder zu den kubistischen Vorläufern. (Das ist im Zusammenhang mit dem noch zu erläuternden Konflikt mit Giuseppe Orazi nicht unwichtig zu wissen). Dafür hat er ein schönes Sprachporträt des jungen Künstlers verfasst. Dass ihm die Bilder gefielen, liest sich nur zwischen den Zeilen.

Deutlicher drückten die Kunstkritiker ihr Wohlwollen aus. In der NZZ stand zu lesen: «Mario Pasquale Comensoli, dem jungen Tessiner Maler und Bildhauer, steht gegenwärtig das ganze erste Geschoß des Helmhauses zu Gebote, und er weiss die Räume ohne Zaudern zu bewältigen mit seinen großflächigen Tafeln, die von weitem schon die Neigung und Fähigkeit des Südländers zur Wandmalerei bezeugen. Der dreißigjährige Künstler, einer Toskaner Familie entstammend, die sich in Lugano eingebürgert hat, arbeitet seit neun Jahren in unserer Stadt. Dieser Aufenthalt in der herberen Sphäre hat ihn spürbar beeinflusst – seine Vielfigurenbilder, die ihn seit etwa zwei Jahren fast ausschließlich beschäftigen, sind ein Gemisch von italienischer Bravour und hiesiger Nüchternheit, von südlicher Bewegtheit und nördlichem Ordnungsfleiß.
Die Begegnung mit dem groß und breit und kühn dahinströmenden und daherzappelnden Lebensgewimmel dieser Bilder aus den Jahren 1950 bis 1952 ist eine Überraschung. Man freut sich darüber, dass einer so kräftig und so drastisch zu erzählen weiß; dass er Motive hat, die strotzen von Unmittelbarkeit; dass er einen Pinsel führt, der weder Zimperlichkeit noch Unschlüssigkeiten zu kennen scheint. Da ist nichts angekränkelt, nichts von Gedankenblässe zerbröselt – man weiß, was man vor sich hat. «Die Radfahrer, Sturz in der Kurve«, oder die Fußballer, oder die Schmuggler (soeben ertappt), oder die Trinker (die nicht nur Gläser leeren, sondern Flaschen höhlen). Ein wahrer Konfettiwirbel an tumultuösem Leben. Denn Comensoli bedient sich seit zwei Jahren einer Technik der unvermittelt nebeneinander aufgetragenen Farbflecken, die auf seltsame Art zugleich an Teppichwirkerei und an Trickfilmzeichnung gemahnt. (…)
In diesen Darstellungsbezirken wird sich Comensoli indessen kaum festhalten oder gar voreilig beruhigen lassen; er ist zu begabt dazu. Seine Ausstellung wirkt auf uns deshalb nicht als ein Fazit, sondern als ein Atemholen vor einer Entscheidung — der Entscheidung zwischen echter Einfachheit und bloßer Drastik. In den Werken früherer Jahre – etwa den Männerköpfen – und in den wenigen Skulpturen – zeigt sich sein durchaus unmittelbares Talent. Seine Hand ist werkgerecht, sein Blick entscheidungskräftig, kurz: er ist im Besitz jener künstlerischen Mitgift, die den Italienern immer wieder so verschwenderisch zuteil wird. Darum wird man keine Befürchtungen hegen, dass er die fällige Entscheidung zu meistern versteht.»

Nur einer fügte dem vielstimmigen Lob auch deutliche Kritik bei: Manuel Gasser, der Weltwoche-Redaktor und späterer du-Chefredaktor. «Comensoli verfügt über einen angeborenen, aufs schönste ausgebildeten Farbensinn, der zugleich männlich und zart ist, Über federnde Kraft, die vorzüglich in den Zeichnungen zum Ausdruck kommt. Über eine schnelle und feine Beobachtungsgabe, die sich ausschliesslich an den Bewegungen des menschlichen Körpers übt. Und endlich über einen starken Hang zum Dramatischen, welcher sich allerdings leicht ins Melodramatische verirrt.
Das sind seine Trümpfe. Seine Schwäche liegt bei der Komposition.
Dass die Komposition sein Hauptanliegen ist und besonders auf seinen neuesten Bildern alle seine wirklichen Vorzüge wie ein gefrässiges Ungeheuer zu verschlingen droht, widerspricht dieser Behauptung keineswegs. Comensoli ist nicht der erste Maler, der das, was ihm fehlt oder doch Kopfzerbrechen macht, überkompensiert.
Diese Überkompensation äussert sich darin, dass er einen wahren Horror vor «unorganisierten» Bildstellen hat. So füllt er seine Leinwände (die in Wirklichkeit Freskenwände sein sollten) mit einem Gewimmel von menschlichen Figuren, die alle aufs heftigste gestikulieren – nicht etwa, weil es ihnen die dargestellte Handlung oder ihr Gemütszustand vorschreibt, sondern einzig und allein deshalb, weil der Maler für seine Komposition eine Unzahl von gewinkelten Armen und Beinen, hellen und dunklen Flecken, von Horizontalen, Diagonalen und Vertikalen benötigt.
In diesem sinnverwirrenden Gezappel geht dann prompt alles unter, was der Maler an Neuem, Eigenem, Bewunderns- und Liebenswertem zu geben hat.
Das ist schade. Denn wenn man sich die Mühe nimmt, seine Bilder in ihre Elemente zu zerlegen, so findet man Einzelfiguren und Gruppen von erstaunlicher Eigenart, Richtigkeit und Schönheit. Man sehe sich nur die beiden Messerstecher im Hintergrund auf dem Bild «Politische Kämpfe» (Nr. 31) daraufhin an. Oder man gebe sich Rechenschaft, um wie viel die nur dreifigurigen «Radfahrer II» (Nr. 18) trotz der tastenden Unsicherheit die technisch überlegenen grossen Wimmelbilder übertreffen!»

Manuel Gassers Einwände haben den dünnhäutigen Mario Comensoli sehr verletzt. Das Lobende in diesem Text muss er angesichts der Einwände überlesen haben. Der NZZ-Kritiker, der schrieb «Seine Ausstellung wirkt auf uns deshalb nicht als ein Fazit, sondern als ein Atemholen vor einer Entscheidung» sollte recht bekommen. Comensoli fasste kurz darauf eine wichtige Entscheidung. Ausschlaggebend war dabei aber nicht die Zürcher Presse, sondern ein kleiner Artikel über Comensolis zeitweiligen Freund Giuseppe Orazi (genannt Horace) – mehr als ein halbes Jahr später in den Pariser Wochenzeitung «Les lettres françaises» erschienen – in dem Comensoli – sicher von Orazi veranlasst – ein Plagiatsvorwurf gemacht wurde. Comensolis antwortete mit Überreaktion. Als er in dieser Angelegenheit einen Rechtsanwalt bemühte, nahm das Ganze fast groteske Züge an. Schliesslich wurde auch das Syndicat de la propriété artistique eingeschaltet. Wie im Internet zu überprüfen ist, gibt es tatsächlich deutliche Entsprechungen zur Kunst Orazis. Das kam nicht von ungefähr. 1949 hatte er sich während eines Monats bei Orazi eingemietet und so, wenn nicht in Ateliergemeinschaft, dann doch in seiner Nähe gearbeitet. Aus Briefen geht hervor, dass er während der verschiedenen Pariser Aufenthalte Orazi regelmässig gesehen hatte und dieser anhand von Fotografien die Arbeit Comenslis mit Interesse verfolgte.

Giuseppe-«Horace» Orazio lebte von 1906-1979, war ein vermutlich in Paris aufgewachsener Italiener, dessen meisten Bilder eher konservativen Charakter haben. Um 1950, in seiner Peinture du Mouvement-Phase bewegte er sich am Rand der avantgrdistischen Kreise, denen er aber nie eigentlich angehörte. Heute ist sein Name und sein Schaffen dem Vergessen anheim gefallen.

Es ist müssig, darüber zu streiten, wie weit der ohnehin nicht sehr eigenständige, von postkubistischen Vorläufern stark beeinflusste Orazi an Comensolis Peinture du mouvement mitbeteiligt gewesen ist. Wichtig zu wissen ist nur, dass die Hitze des Zwists Comensoli gleichsam läuterte und zu sich selber führte. Er zog einen Schlussstrich unter das, was Gasser als «Wimmelbilder» bezeichnete und fand fast über Nacht zu jener Einfachheit, die die Phase der lavoratori in blu auszeichnet.

Was wäre gewesen, wenn ihm Orazi nicht den Fehdehandschuh zugeworfen hätte? Vermutlich wäre Comensoli auch ohne die heftigen Auseinandersetzungen Comensoli geworden, aber sicher nicht so rasch. Nachdem ihm sein Kollege Orazi so schmählich behandelt hatte, zog es ihn nicht nach Paris. Sein Ziel war es jetzt nicht mehr, den Anschluss an die sogenannt grosse Kunstwelt, die er als verräterisch und korrupt empfand, zu finden, sondern den eigenen Weg. Zweifellos gab ihm Paris die eine oder andere fruchtbare Anregung, aber die Kunstmetropole hatte ihn auch von sich weggeführt. Das wird in den von Picasso inspirierten Bildern aus dem Jahr 1948 besonders deutlich. Wäre er ihm Bannkreis der Pariser Kollegen geblieben, so hätte sich seine Kunst möglicherweise noch mehr dem angenähert, was damals als modern galt, nämlich der ungegenständlichen Kunst. Vielleicht wäre er der dynamische Bruder von Serge Poliakoff geworden.

Die chinesische Schrift bezeichnet Krise mit dem selben Zeichen wie Chance, Möglichkeit zum guten Gelingen. Entsprechend werden auch die Tarotkarten interpretiert. Im Negativen steckt stets der Ansatz zum Positiven, das Destruktive überlagert sich mit dem potentiell Konstruktiven. Comensoli gingen die Ereignisse des Jahres 1953 sehr nah. Zeitlebens hat er nicht vergessen, was ihm damals geschehen ist. Er hat das nie völlig verarbeitet. Dies äusserte sich etwa darin, dass er mir gegenüber dieses Thema stets mied und dass in der sorgsam von Elena Comensoli nachgeführten Dokumentation der Presseberichte und ähnlicher Dokumente, fast alles, was ihn diskriminierte, weggelassen worden war. Aber aus dieser Krise heraus hat er sich etwas Neues erarbeitet, ist sein eigentliches Werk entstanden – unvergleichlich und souverän. Die Dramatik hat sich zu stiller Intensität gewandelt, und sein thematischer Bezugspunkt wurde nun die eigene Erlebniswelt, das eigene Schicksal und jenes der Mitmenschen, die wahrhaftig interessierten. So ist Comensoli zu dem geworden, was Rudolf Jakob Humm in ihm sah: ein Maler der Integrität, der Ganzheit.