Chronist seiner Zeit

Mario Barino über den Comensoli-Roman “Die Prinzen der urbanen Wüste“ von Anita Siegfried

Die Prinzen Der Urbanen Wüste

Es gibt viele Möglichkeiten, ein Leben auszuweiden, eine Odyssee zu erzählen, welche die eines Malers ist, der davon überzeugt ist, dass sein Werk Träger einer menschlichen Botschaft sein muss, die keine Verzögerung, List oder leichte Abkürzungen zulässt, um den Geschmack des Augenblicks zu befriedigen.

Auf den über 200 Seiten von Anita Siegfrieds Buch „Die Prinzen der urbanen Wüste“ (Untertitel: Auf den Spuren von Mario Comensoli) werden Kontrapunkte und abrupte Wendungen eines Lebens durch eine außergewöhnliche Erzähltechnik transparent gemacht, die darin besteht, eine Art diaristische Qualität zu erzeugen.

Durch eine intensive Recherchierarbeit im Archiv der Stiftung Comensoli in Zürich hat Siegfried eine Vielzahl von Notizblättern und Papierfetzen, die Gemütszustände, philosophische Überlegungen, Bekenntnisse einer Seele enthalten, die oft von den Widersprüchen schwieriger existenzieller Herausforderungen zerrissen ist. Dadurch versteht man, warum Mario Comensoli von einigen Exegeten als „Seismograf“ der gesellschaftlichen Ereignisse genannt wurde.

Im Jahr 2022, in dem der hundertste Geburtstag gefeiert wurde, erinnerte das Kulturzentrum Chiasso-Spazio Officina an eine Phase seiner Malerei, die bis dahin zu Unrecht als weniger bedeutend eingestuft war, nämlich an die Erzählung der Auswanderungswelle von Arbeitern aus dem Süden in die Schweiz, die von den Kunstkritikern zu  „Männern in Blau“ umgetauft wurde.

In Siegfrieds Buch ist die emotionale Beteiligung des Malers an diesem Phänomen ein Thema von besonderer Intensität: Die Autorin gräbt in der Kindheit des kleinen Mario, erzählt vom Verlust der Mutter und dem „Ersatz“ mit „zwei Müttern“, Palma und Giovanna, die vom Mitleid bewegt, bis zum Ende des Schulalters den unruhigen Monello grosszogen, bevor sie nach Cesena zurückkehrten.

Und dann gibt es die Freundschaft mit den sogenannten Gastarbeitern an den Tischen des «Coopi» in Zürich und die sonntäglichen Besuche in der Baracca in Erlenbach, wo Boccia gespielt wurde: eine wichtige Inspirationsquelle für den Maler der „Uomini in blu“.

Vom lyrischen Realismus wechselt Mario Comensoli zur befreienden Explosion einer Welt, die plötzlich von der farbenfrohen und lebendigen Jugendrevolution der 60er Jahre heimgesucht wurde, und zur Kultausstellung der „Kapelle der holden Widersprüche“ in Zürich und Paris, dessen Bedeutung dem Feminismus am Herzen liegt.

In der letzten Phase seines Werks, gewidmet an die „No future“-Generation, hat Comensoli eine stilistische Spontaneität gewonnen, ähnlich einem Pianisten, dessen Hände mühelos über die Tastatur fliegen. Und doch ist seine psychologische Identifikation mit einer Welt, die im Zürcher Drogen- „Paradies“ gleich neben seinem Atelier zerbröckelt, dramatisch.

Der Maler hinterlässt eine Notiz. „Ich bin ein Mann, der sich im wirklichen Leben schlecht darstellt. Arbeit umgeben von Traurigkeit und Verzweiflung. Ich spüre eine Müdigkeit, die die Wahrnehmung der Dinge trübt. Jeden Tag möchte ich diese Tür öffnen, aber ich kann den Schlüssel nicht finden. Die Dämonen des Herzens treten an die Oberfläche, und die Seele entblößt sich.

Es ist der 2. Juni 1993 „Ich sehe Nebel“ murmelt Comensoli am Telefon. Die Fotografin die mit ihm sprechen möchte, bittet um Hilfe. Der Hörer des Wandtelefons baumelt in der Luft, als die Ateliertür gewaltsam geöffnet wird.